4.10. | Happy – Go – Lucky

18.00/20.30

Pauline (Sally Hawkins) arbeitet als Grundschullehrerin im Norden Londons, ist aber vor allem eines: die reine Frohnatur. Von all ihren Freunden und Bekannten nur Poppy genannt, kann sie dem Leben ausschließlich positive Seiten abgewinnen. Es gelingt niemandem, sie aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Der Film folgt episodenhaft ihrem Alltag: Poppy beim Trampolinspringen, Poppy bei ihren Freundinnen, bei der Arbeit oder in der Fahrstunde. Der überbordende Optimismus könnte befremdlich wirken, einem sogar irgendwann gehörig auf die Nerven gehen Doch Regisseur Mike Leigh gelingt es, die Welt völlig aus der Perspektive der Protagonistin zu sehen – und man vergisst, dass man sich eigentlich über diese nervenaufreibende Fröhlichkeit ärgern wollte. Leigh, seit Jahrzehnten bekannt als Vertreter des sozialkritisch engagierten Kinos, bleibt auch in diesem Film seinem Mikrokosmos der kleinen Leute treu. Doch dieses Mal stehen keine entlassenen Werftarbeiter oder ausgebeuteten Putzfrauen im Mittelpunkt, sondern eine Art britische Pippi Langstrumpf, die sich ihre kindliche Lebensfreude bewahrt hat. Die Hauptdarstellerin Sally Hawkins bekam für ihren hochsympathischen Gute-Laune-Marathon bei der Berlinale 2008 einen Silbernen Bären.

Großbritannien 2008, Regie: Mike Leigh, Darsteller: Sally Hawkins, Alexis Zegerman, Andrea Riseborough, ab 6, 119 min

11.10. | Orphea in Love

18.00/20.30

Nele (Mirjam Mesak) schlägt sich in einer deutschen Großstadt als Multi-Jobberin durch. Sie stammt aus einem kleinen Dorf in Estland und verdient ihr Geld in einem Call-Center sowie als Garderobiere in der Staatsoper. Aus ihrem tristen Alltag flüchtet sie sich immer wieder in die Welt der großen Oper. Da begegnet sie dem kleinkriminellen Straßentänzer Kolya (Guido Badalamenti); sie verliebt sich sofort in ihn, ebenso wie er in sie. Ein zauberhaftes Duo ist geboren, sie Gesang, er Tanz, sie Orpheus, er Eurydike. Das geht jedoch nicht lange gut. Ein großes Unglück trennt die beiden Liebenden und um Kolya wiederzubekommen, muss sich Nele einem dunklen, blutigen Geheimnis aus ihrer Vergangenheit stellen. Orpheus und Eurydike, den Mythos aus der klassischen griechischen Sagenwelt, nimmt der Regisseur Axel Ranisch auf und interpretiert ihn, sehr neu und sehr frei. Unbekümmert reißt er die Grenzen ein zwischen E- und U-Musik, wenn er formstrengen Barockgesang mit Streetdance-Moves kombiniert. Doch die klassische Musik dominiert, mit Werken von Händel, Verdi, Puccini und anderen huldigt Ranisch seiner Liebe zur Klassik und insbesondere zur Oper. Er tut dies auf eine Weise, dass man kein Opernfan sein muss, um „Orphea in Love“ genießen zu können. Da stört es auch nicht sonderlich, wenn schon mal eine leidenschaftliche Gesangseinlage im Call-Center von der Chefin mit einem barschen „Ruhe. Hier spielt die Musik!“ abgewürgt wird.

Deutschland 2022, Regie: Axel Ranisch, Darsteller: Mirjam Mesak, Guido Badalamenti, Ursula Werner, ab 12, 107 min

18.10. | The Inspection

18.00/20.30

Ellis French (Jeremy Pope) fliegt zuhause raus. Ellis ist schwul und das kann seine streng religiöse Mutter Inez (Gabrielle Union) nicht ertragen. Den Weg aus der Obdachlosigkeit und die Hoffnung, den Respekt seiner Mutter wiederzuerlangen, sieht er ausgerechnet bei der US-Marine-Infanterie. Doch das bedeutet zunächst einmal ein mehrwöchiges boot camp zu überstehen, bei dem einem die Ausbilder schon am ersten Tag die Frage entgegenbrüllen, ob man Terrorist oder schwul sei. Eindringlich fängt der Regisseur Elegance Bratton die Unterdrückung in dieser militärischen Männerwelt ein. Die meisten Vorgesetzten sind mindestens gnadenlos, wenn nicht sadistisch. Ausnahmen wie der empathische Rosales (Raul Castillo) bestätigen diese Regel nur. Doch Bratton macht es sich nicht so leicht, diese abgeschlossene Welt mitsamt ihren Strukturen bloß zu verteufeln. Dass der feingeistige, einfühlsame Protagonist hier trotz allem mehr Nähe erlebt und Halt findet als in seinem bisherigen Leben, wird unmissverständlich herausgearbeitet. „The Inspection“ ist das Spielfilm-Debüt Elegance Brattons und der orientiert sich eng an seiner persönlichen Biographie. Der Regisseur und Drehbuchautor weiß also ganz genau, wovon er redet. Ein ungeschliffener, unerbittlicher Film und dennoch emotional vielschichtig und inszeniert mit viel Sinn für unerwartete Schönheit.

USA 2022, Regie: Elegance Bratton, Darsteller: Jeremy Pope, Gabrielle Union, Raul Castillo, ab 12, 95 min

25.10. | Fallende Blätter

18.00/20.30

Die Wege zweier einsamer Seelen kreuzen sich in Helsinki, Ansa (Alma Pöysti), die ihren Supermarkt-Job verliert, weil sie einen abgelaufenen Joghurt mit nach Hause nimmt, und Holappa (Jussi Vatanen), der auf dem Bau arbeitet und meist schon dort den einen oder anderen Drink intus hat. Die beiden treffen sich in einer Karaoke-Bar, doch ihr tatsächliches Zueinanderfinden wird immer wieder erschwert durch mal größere, mal kleinere Vorkommnisse. Die Telefonnummer, die Ansa Holappa gegeben hat, verliert der sofort wieder und Ansa muss erst einmal einen zweiten Teller kaufen, ehe sie Holappa zum Abendessen einladen kann. Regisseur Aki Kaurismäki erzählt seine ebenso entzückende wie melancholische Liebesgeschichte in seinem mittlerweile 20. Spielfilm genauso, wie man den großen finnischen Filmemacher kennt. Schweigsame Figuren mit lakonischen Dialogen, staubtrockener Humor in Wohnungen mit zeitloser Retro-Ausstattung. Aktuell wird „Fallende Blätter“ durch den Krieg in der Ukraine. Immer wenn Ansa das Radio einschaltet, hört man die Berichterstattung über das Kriegsgeschehen. Doch auch hier fallen die Kommentare knapp aus. „Dieser verdammte Krieg“, sagt Ansa einmal und das muss reichen. „Fallende Blätter“ ist eine Suche nach dem Glück in einer trostlosen Wirklichkeit, die einem am Ende doch auf zarte, tragikomische Weise das Herz wärmt. Und nicht zu vergessen die Verneigung Kaurismäkis vor einem seiner großen Vorbilder, Charlie Chaplin. Wie denn der entzückende kleine Hund heiße, den sie da an ihrer Seite habe, wird Ansa von Holappa gefragt. „Chaplin“, antwortet sie.

Finnland 2023, Regie: Aki Kaurismäki, Darsteller: Alma Pöysti, Jussi Vatanen, Alina Tomnikov, ab 12, 81 min

27.9. | Past Lives

18.00/20.30

Dicke Freunde sind sie, die beiden Zwölfjährigen Na Young und Hae Sung. Doch da verlässt die Familie Na Youngs ihre Heimatstadt Seoul und wandert nach Kanada aus. Schnell passt sich das Mädchen den Gegebenheiten in der neuen Heimat an, ändert sogar ihren Vornamen in Nora. Zwölf Jahre später, aus einer Laune heraus, sucht und findet sie ihren Jugendfreund auf Facebook. Zu mehr als regelmäßigen Skype-Gesprächen mit Hae-Sung, der weiterhin in Seoul lebt, kommt es aber nicht. Weitere zwölf Jahre vergehen, Nora lebt inzwischen in New York und ist glücklich mit dem Amerikaner Arthur verheiratet. Doch nun kündigt Hae-Sung an, für einen Besuch eine Woche nach New York zu kommen. Dieser längste Abschnitt des Films bildet das berührende Herzstück der Geschichte. Noras über Jahrzehnte aufgebaute amerikanische Identität wird durch das Wiedersehen mit ihrem Jugendfreund ganz erheblich ins Wanken gebracht; sie fühlt sich immer mehr wieder als Koreanerin. Ihr Ehemann Arthur kann dieser Entwicklung nur machtlos zuschauen und seine Hilflosigkeit angesichts des drohenden Entgleitens seiner Frau gehört zu den berührendsten Momenten in diesem Film. Ohne Sentimentalität oder Nostalgie erzählt die südkoreanisch-kanadische Regisseurin Celine Song von Vergangenem und Gegenwärtigem, von alten Beziehungen und neuen Perspektiven. Nicht zuletzt geht es um den Widerstreit von Vernunft und Verlangen. Soll Nora ihre sorgsam aufgebaute Sicherheit für ihre Sehnsucht riskieren?

USA/Südkorea 2023, Regie: Celine Song, Darsteller: Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro, ohne Altersbeschränkung, 106 min