10.8. | Wie im echten Leben

18.00/20.30

Das Enthüllungsbuch „Der Mann, der bei BILD Hans Esser war“ avancierte 1977 in Deutschland zu einem großen Erfolg. Der Journalist Günter Wallraff beschrieb darin seine Erfahrungen, die er als Undercover-Redakteur bei der Zeitung mit den vier großen Buchstaben gesammelt hatte. Einen ähnlichen Weg ging 2009 die französische Reporterin Florence Aubenas. Inkognito übernahm sie den Job als Putzfrau auf der Fähre nach England im Küstenort Ouistreham. Ihr Buch „Le quai de Ouistreham“ war ein ebenso großer Erfolg wie Wallraffs Dokumentation und kommt jetzt in die Kinos. Juliette Binoche verkörpert die heimliche Putzfrau Marianne, so heißt sie im Film. Eigentlich ist sie Schriftstellerin, gibt sich aber als mittellose, verlassene Ehefrau aus. Die Putzkolonne, in der sie landet, muss jeden Tag 230 Schiffskabinen reinigen, in anderthalb Stunden. Harte körperliche Arbeit, rüder Umgangston und permanenter Zeitdruck, das sind die täglichen Arbeitsumstände. Dagegen gesetzt wird eine verschworene Solidarität unter den Kolleginnen, eine proletarische Nestwärme, die Marianne zutiefst anrührt. Der Film des Regisseurs Emmanuel Carrere offenbart aber auch die unterschiedliche Wahrnehmung, hier die wohlsituierte Bohemienne, die ihren Knochenjob jederzeit hinschmeißen kann, dort ihre Kolleginnen, die keine andere Perspektive als das besinnungslose Schuften haben. Dieser Gegensatz setzt sich fort, als Marianne entlarvt wird. Sie kann allerbeste Absichten für sich in Anspruch nehmen, sie erreicht ihr Ziel, in einem Buch die empörenden Arbeitsbedingungen der „Unsichtbaren“ öffentlich zu machen. Dennoch empfinden die anderen Frauen das Ausspionieren ihrer Lebensumstände als demütigenden Verrat, ist doch in ihrem Leben Solidarität überlebenswichtig. Da schließt sich die grundsätzliche Frage an: Ist Freundschaft über Klassengrenzen hinweg möglich?

Frankreich 2021, Regie: Emmanuel Carrere, Darsteller: Juliette Binoche, Lea Carne, Didier Pupin, ab 6, 106 min