9.8. | Living – Einmal wirklich leben

18.00/20.30

Einmal wirklich leben

London 1953. Am Bahnsteig eines Vorstadtbahnhofs warten Männer in Anzügen auf den Zug; sie alle arbeiten in der städtischen Beschwerdestelle. Steife Oberlippe, keine Miene wird verzogen, auch später im Abteil nicht. Ein Scherz des neuen Kollegen – eisiges Schweigen bestraft ihn. Dann der Mikrokosmos aus klackernden Schreibmaschinen und meterhohen Aktenstapeln. Geleitet wird die Abteilung von dem mürrischen Eigenbrötler Mr. Williams (Bill Nighy). Der hat sich dem bürokratischen System genauso angepasst wie alle anderen. Doch dann erhält er eine erschütternde Diagnose: Krebs, nur wenige Monate bleiben ihm noch. Das bevorstehende Lebensende zwingt Williams dazu, Bilanz zu ziehen. Ist das wirklich alles, womit er sich von dieser Welt verabschieden will? Er beschließt, sich für den Bau eines Spielplatzes in einer vernachlässigten Wohngegend einzusetzen, sein kleiner Beitrag für etwas mehr Menschlichkeit. „Living“ ist eine Neuinterpretation von Akira Kurosawas Klassiker „Ikiru“. Die Verlegung der Handlung von Japan ins London der frühen 1950er Jahre gelingt deswegen so gut, weil Literatur-Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro das Drehbuch verfasste. Der britische Schriftsteller japanischer Herkunft kann die Parallelen beider Kulturen wie kaum ein zweiter herausarbeiten. Und dem südafrikanischen Regisseur Oliver Hermanus gelingt es, die beengende bürokratische Atmosphäre auf die Leinwand zu bringen, aus der sein Protagonist am Ende seines Lebens auszubrechen versucht. Am Ende gewinnt das System, wie immer, doch Mr. Williams hat einige Kinder glücklich gemacht – und damit letztlich sich selbst. Die Schaukeln werden bleiben, auch wenn er schon lange nicht mehr da ist.

Großbritannien/Japan 2022, Regie: Oliver Hermanus, Darsteller: Bill Nighy, Michael Cochrane, Alex Sharp, 102 min